In den nächsten zwei Monaten werde ich an dieser Stelle eine kleine Sammlung von Protestsongs seit den sechziger Jahren anlegen. Vielleicht ergeben sich daraus ja eine Typologie und eine Geschichte des Protestsongs, die irgendwie Sinn machen.
Diese Woche:
Auf dem Höhepunkt der bundesrepublikanischen Friedensbewegung der achtziger Jahre gewann nicht nur Nicole mit Ein bisschen Frieden den Grand Prix Eurovision de la Chanson (1982). Unzählige weitere Künstlerinnen und Künstler reihten sich mit Stellungnahmen, Auftritten und Songs ebenso in die Phalanx der Friedensbewegten ein. Geier Sturzflug, die NDW-Ska-Truppe aus dem Ruhrpott, hat mit Besuchen Sie Europa! vielleicht den schönsten Beitrag geliefert. Zumindest stechen der bitterböse Humor, der augenzwinkernde Zynismus und der Tanzflächenappeal des Songs markant aus der Welt der Protestschlager, Liedermacherei und Stadionrockposen hervor.
Geier Sturzflug spielen mit zentralen Topoi der bundesrepublikanischen Friedensbewegung. So ist im Rückblick kaum zu übersehen, dass Anti-Amerikanismus eine derjenigen Klammern war, die die heterogenen Friedensintiativen und Friedensgruppen überhaupt zusammenhielt. In der Friedensbewegung wurden die USA als Bedrohung der (bundes-)deutschen und darüber hinaus: europäischen Gemeinschaft imaginiert. (Nachzulesen ist das in dem wunderschönen Lesebuch: Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892-1992).
Es ist doch schon etwas überraschend, wenn in einem Song, der sich mitten im Kalten Krieg mit der Möglichkeit einer atomaren Apokalypse in Europa befasst, nur eine der am Konflikt beteiligten Seiten vorkommt. Bei Geier Sturzflug heißt es kurz und knackig:
Wenn aus der Haute Cuisine ein Hexenkessel wird,
Wo sich der Koch aus Übersee seine alte Welt flambiert,
Da wird gelacht und applaudiert, denn selbst der Kellner kriegt ’n Tritt,
Was bleibt uns außer der Kultur? Wir wünschen guten Appetit!
Der Song steht damit im Zeichen einer Friedensbewegung, die sich um NATO-Doppelbeschluss und amerikanische Pershing II-Raketen herum konsolidiert hatte und in deren Welt es nur die USA, nicht aber Sowjetunion und Warschauer Pakt gab. Die Bedrohung geht hier offenkundig nur von einer Seite aus.
Und dann dieses Europa, von dem Geier Sturzflug da singen. Es gibt keinen Song, der mehr über die mental map der bundesrepublikanischen Friedensbewegung dieser Zeit aussagt. Natürlich, Europa! Die ’nationale‘ Verengung der Perspektive wollte man in einer postfaschistischen und Nachkriegsgesellschaft um jeden Preis vermeiden. Deshalb sprach man immer und gern von Europa (oder gleich der Welt/Erde, wie Nicole das getan hatte). Auf diese Weise konnte die Friedensbewegung das nicht mehr zeitgemäße Erbe ihrer Vorgänger in der Weimarer Republik (den nicht nur heimlichen Nationalismus des Pazifismus früherer Tage) abschütteln und dadurch recht eigentlich erst massenwirksam werden. Bezeichnend hieß es im berühmten Krefelder Appell vom 16.11.1980, der eine Art Minimalkonsens der Friedensbewegung darstellte, die Bundesregierung solle „im Bündnis [d.i. NATO] künftig eine Haltung einnehmen, die unser Land nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen, vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens sein zu wollen.“
Um Europa geht es auch bei Geier Sturzflug.
Wenn im Canale Grande U-Boote vor Anker gehn,
und auf dem Petersplatz in Rom Raketenabschußrampen stehn,
überm Basar von Ankara ein Bombenteppich schwebt,
und aus den Hügeln des Olymp sich eine Pershing II erhebt.
Dann ist alles längst zu spät,
dann ist, wenn schon nichts mehr geht,
besuchen Sie Europa,
solange es noch steht.
Vor dem alten Kölner Dom steigt ein Atompilz in die Luft,
und er Himmel ist erfüllt von Neutronenwaffelduft,
wenn in Paris der Eiffelturm zum letzten Gruß sich westwärts neigt,
und in der Nähe von Big Ben sich zartes Alpenglühen zeigt.
Nur, was ist dass für ein Europa? Eigentlich sind es zwei: Da ist erstens das kulturell wertvolle Europa als bloße Anhäufung touristischer Sehenswürdigkeiten, die man besser noch schnell besucht, bevor das alles nicht mehr ist. Zweitens aber ist es ein Europa ohne Osten. Genau genommen ist es nicht Westeuropa, sondern NATO-Europa. Europa ist – über den Daumen – da und dort, wo der NATO-Doppelbeschluss es den USA erlaubt, ihre Raketen zu stationieren. So, wie die Bedrohung einseitig konzipiert wurde, sieht es nun auch mit dem Bedrohtsein aus. Vom Ostblock geht in dieser Weltsicht vielleicht keine besondere Gefahr aus, im Gegensatz zu London, Paris, Rom, Köln usw. werden Warschau, Prag, Budapest usw. im Falle eines Atomkriegs in diesem ‚Europa‘ aber auch nicht vernichtet.
Ich kann mich genau an diesen Song erinnern. Hab‘ den damals in Rabat/Marokko ueber Kurzwelle gehoert. Schade, dass heutzutage gar keine Protestsongs mehr gegen die neuen Kriege und militaerischen Interventionen Europas/NATO/etc… gibt. Kulturell gesehen, ist die Friedensbewegung leider mehr als nur tod.
Ich glaube, songs gibt es in diese richtung schon immer wieder einige, auch heute noch – nur nicht mehr so bekannt und populär. Das hat wohl wirklich damit zu tun, dass eine einflussreiche, große friedensbewegung nicht mehr existiert …