„One two three four! My band rips into our opening song. The Music is loud, tight, fast and intense.
A wave of bodies surges at the front of the stage as the audience explodes into frenetic dancing. The music blaring at my back, I’m going to ride this wave. I grab the microphone from the stand and belt out the words.
‚She’s taken too much of the domesticated world, she’s tearing it to pieces, she’s a violence girl!‘
I’m bouncing on stilettos like a fighter in the ring, I charge out onto the edge of the stage, full of adrenaline and fire. I sing into the faces in the front rows. They are my current, my source of energy. I urge them to engage. I know there’s something in them, some inner carbonation lying still, waiting to be shaken. It’s fizzing in them as I shake them up. Shake, motherfucker, shake! I want you to explode with me.
I’m stomping, jogging and dancing all over the stage, teetering precariously on my high heels. I spot an area of spectators in front of Patricia, my bassist. Fuck that! No spectators, we’re all participants here!“
So beginnt die Autobiographie einer Frau, die am 7. November 1958 in East L.A. als Alicia Armendariz geboren wurde, sich während der siebziger Jahre in Alice Bag – das Violence Girl – verwandelte und heute ihr Diary of a Bad Housewife führt. Was Siouxsie Sioux einst sang, passt auf diese Frau, wie es auf wenige Menschen passt: „We are painted birds, painted birds, by our own design“.
Alice Bag, das Violence Girl:
Musiker_innenautobiographien folgen mehrheitlich einem heimlichen Skript. Da gibt es zunächst die ‚Vorgeschichte‘ bis zu dem Moment, in dem die anderen Bandmitglieder gefunden, der erste später bekannte Song geschrieben oder das erste legendäre Konzert gegeben wird. In diesen Kapiteln menschelt es. Zu lesen gibt es niedliche Anekdoten aus Kindheit und Jugend, etwas über die Familie, Elternhaus, Grundschulfreund_innen usw. Ein Mensch, wie jede_r andere – das wollen diese Kapitel mitteilen, bevor der Startschuss zur ‚eigentlichen‘ Geschichte fällt. Diese ‚eigentliche‘ Geschichte besteht meistens aus einer – für Fans auf den ersten Blick spannenden, bei nüchterner Betrachtung aber banalen und langweiligen – Ansammlung von celebrity gossip, name dropping, Backstagegeschichtchen und ‚Hintergrundinfos‘ zu Musik und Texten der geliebten Songs und Alben. Dann folgen Kapitel, in denen der Niedergang geschildert wird, das (beinahe) Zerbrechen am Ruhm – und schließlich die Versöhnung mit sich selbst, der eigenen Geschichte und früheren Bühnenpersönlichkeit.
Die Autobiographie von Alice Bag hat auch derartige Kapitel, aber sie erzählt eine andere Geschichte. Alice Bag bastelt mittels unzähliger kleiner Miniaturen ein Mosaik aus Gewalt und Traumatisierung, aus Diskriminierung und Ungleichheit, aus Aufbegehren, Widerstand, Selbst-Ermächtigung und Kreativität. ‚Punk‘, in seiner frühen L.A.-Ausprägung, ist nur eine Chiffre, ein Wort, das eine bestimmte Erfahrung und Haltung knapp auf den Punkt bringt.
Alice Bag ist die Tochter eines mexikanischen Zimmermanns – er weigerte sich im Gegensatz zu ihr Zeit seines Lebens, sich als Mexican-American oder Chicano zu bezeichnen. Ihre Mutter war bereits als Kind aus Mexico nach Los Angeles gekommen. Die Familie lebt in armen Verhältnissen im East L.A. Barrio. Der Vater verprügelt die Mutter regelmäßig, schlägt sie mehrfach halb tot – „My father was a monster“ – schlägt Alice aber nie, liebt sie , unterstützt sie in allem, was sie tut. Dennoch: er zwingt ihr eine häusliche Umgebung auf, in der Brutalität und Gewalt alltäglich sind. Erst auf dem Sterbebett konfrontiert Alice ihren Vater und will wissen, warum er jahrzehntelang ihre Mutter verprügelt habe.
In Kindergarten und Grundschule erfährt sie, was es heißt, die Sprache aller anderen nicht zu verstehen. Alice spricht spanisch, kein oder kaum englisch. Wen meinen die eigentlich alle, wenn von „Uhleesha“ die Rede ist? Erst später geht ihr auf, dass sie gemeint ist:
„Uhleesha was my English name. It sounded ugly to me. Ah-lees-ia sounded so much softer to me and was what my family called me, but if the teacher called me Uhleesha, it must be my new name. […] [I]n second grade, I shed my hard-to-pronounce Mexican-sounding name and went with the foolproof, Anglo-approved Alice.“
In der Schulzeit stabilisiert Alice einen Außenseiterstatus.
„I was an early bloomer, except that the qualities which bloomed early were all the ones that would ensure I become a true misfit: I was snaggletoothed, overweight, unpopular and unwilling to follow the herd to fit in.“
Alice kultiviert diesen Außenseiterstatus, notgedrungen. Sie gibt im eine offensive Wende. Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen entstehen fast ausschließlich in Konfrontation. Immer wieder wird sie darauf gestoßen, dass sie anders ist. Dinge, die ihr völlig selbstverständlich sind, werden ihr von anderen vorgehalten: ihr Gewicht, ihre Sprache, ihre Herkunft. Ihr wurde klar gemacht, dass sie zu einer Minderheit gehörte, die jederzeit mit Diskriminierung zu leben hatte. Ihr wurde klar, dass sich daraus auch Energie schöpfen ließ.
Dann die Neuerfindung als tough girl und Exzentrikerin auf den Spuren von Elton John und David Bowie – die Entdeckung der Musik: „My world was becoming stereophonic“. Es folgt – im Medium der Autobiographie – eine brillante Schilderung der Entstehung der Punkszene in L.A. Ein zartes Suchen und Finden, ein Experimentieren und Scheitern. Alice Bag schildert minutiös, wie sich die Freaks und Geeks, die Nerds und Misfits immer wieder über den Weg laufen, sich erkennen und wiedererkennen, sich zusammentun und Dinge ausprobieren.
„That summer of 1977, we misfits, weirdos and outcasts established ourselves as a force to be reckoned with. […] The island of misfit toys that had been the very early L.A. punk scene could now be seen for was it truly was: a group of islands dotting the western coastline. […] It seemed to me that the eraly L.A. scene was unconsciously egalitarian. The bands, musicians, artists, press and everyone involved in the punk scene provided an accurate sampling of L.A.’s misfit population. We may have looked weird and even hard on the outside, but most of the people involved in the early scene were open to new ideas, friendly and cooperative. […] There was no clearly defined punk sound, no dress code; all you had to do was show up and make your presence known. The movement was one of individuals and individual expression“.
Es ist genau diese Qualität, die Alice später – als Punk zu Hardcore wurde – vermisste. Die zweite und dritte Welle der L.A.-Szene irritiert sie.
„The once quirky men and women artists who prized originality above all else were being replaced by a belligerent, male-dominated mob who became anonymous, camouflaged by their homogeneous appearance. I didn’t mind the belligerent part. […] What I didn’t like was the sameness.“
Nachdem Alice sich als chicana und Punk entdeckte, entdeckte sie sich als Feministin.
„Cherry Vanilla’s poems helped me realize that some groupies had the same mentality as the cheerleader who had told me she just wanted to make the guys feel good. There was an air of glamour and popularity that went along with both roles, but there was also a risk that the importance by proxy conferred upon those who supported the music or athletic stars could make a girl forget that she should also have goals of her own, even while playing the supporting role.“
Wie das auf die Bühne zu bringen war, zeigte Patti Smith. „Patti completely changed the way I thought about female performers“. Patti war anders:
„Her power was in her words and her presence; it didn’t come from the sweetness of her voice, because her voice wasn’t sweet; her power came from the brutal conviction in it. It didn’t come from makeup, high heels or typically feminine dress; it came from her raw sexual androgyny.“
Und dann: The Bags! Ein kurzer, aber heftiger Punkorkan. „Kinda hardcore before there was hardcore.“ Alice erfindet Alice Bag als Bühnenperson. Iggy Pop, Patti Smith und viel, viel mehr in einem – „a more sexually aggressive persona, one that was not traditionally female sex-kittenish or vampish but more like a sexual outlaw.“
The Bags zerbrechen kurze Zeit später. Alice wird Lehrerin, schließt sich einem internationalen Alphabetisierungsprogramm der Sandinisten in Nicaragua an (bevor die Sandinisten sich in der Rolle als menschenrechtsverachtende Folterknechte zu gefallen begannen!), sie richtet ein online-Interviewarchiv ein (Women in L.A. Punk) und schreibt ein Buch. Es ist ein großartiges Buch geworden, es lässt einen so vieles besser verstehen. Es verdient Leser_innen, viele, ganz viele.
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ps. Wer schon immer einmal wissen wollte, was es mit der akademischen Mode „Intersektionalität“ denn nun genau auf sich hat: Die Lektüre von Violence Girl schafft hier Abhilfe.
pps. Sollte sich das wundervolle Missy Magazine irgendwann einmal dazu entschließen, eine eigene Buchreihe, eine Kleine Feministische Bibliothek, einzurichten, dann wäre eine Übersetzung von Violence Girl ein toller erster Band.
2 Kommentare zu „girls I’d like to be, part I: Alice Bag’s chicana punk feminism“