„Die kleine flirtende Amerikanerin“- Henry James: Daisy Miller

Die ‚junge Amerikanerin‘ beflügelte seit dem späten neunzehnten Jahrhundert die auch damals schon recht alten europäischen Männerphantasien. So beklagten sich kulturkritische Autoren der Weimarer Republik über einen „Kulturfeminismus“, der angeblich in Amerika herrsche. Amerikanische Mädchen kleideten und verhielten sich, so hieß es, als gäbe es keine Klassenunterschiede (und als stünden ihnen alle Freiheiten der Welt zu). Diese anmaßende – selbstbewusste – Haltung drohe auf Europa auszugreifen. In der Folge könne man kaum unterscheiden, ob man es mit einem factory girl, einer Sekretärin oder einer Tochter aus gutem Hause zu tun hat. Diese Einschätzung trägt unverkennbar europäische Züge. Amerikanerinnen und Amerikanern dürfte es keineswegs schwergefallen sein, die feinen Klassenunterschiede trotz modischer Klassenüberschreitung zu erkennen. Henry James‘ Novelle Daisy Miller, erstmals 1878 veröffentlicht, lässt daran keinen Zweifel. Die hervorragende Übersetzung von Britta Mümmler zeigt zudem, dass James ein herausragender Stilist ist. Nicht zuletzt ist es diese sprachliche Eleganz, die Daisy Miller zu einem intellektuellen und literarischen Vergnügen macht.

9783423280662

Die Novelle, die anlässlich des anstehenden 100. Todestags von James in neuer Übersetzung bei dtv erschienen ist, führt uns in die Welt der wohlhabenden und gutsituierten amerikanischen Europatouristinnen (die Damen reisen allein oder mit ihren Kindern – stets ohne Männer) zu einer Zeit, in der die vergleichsweise junge amerikanische Oberschicht noch bemüht war, sich kulturelles Kapital von der vergleichsweise alten europäischen Oberschicht zu leihen.

  • „Mrs Walker war eine jener Pilgerinnen aus der Neuen Welt, die während ihres Aufenthaltes in der Alten großen Wert darauf legten, so ihre eigenen Worte, die europäische Gesellschaft zu studieren; und deshalb hatte sie zu diesem Anlass etliche Exemplare der Gattung Mensch von unterschiedlichster Herkunft um sich versammelt, die ihr, sozusagen, als Studienobjekte dienten.“

Wir begegnen amerikanischen society ladies, die sich unter die alteuropäische Aristokratie mischen und sich als ebenbürtig – als nicht nur ebenso reich, sondern vor allem als ebenso altehrwürdig und ebenso kultiviert zu präsentieren suchen. Dieses Bemühen schließt ein: sich von ‚vulgären‘, neureichen Emporkömmlingen zu distanzieren. James hat ein feines Gespür für dieses soziale Ringen alter und neuer amerikanischer Eliten auf europäischer Bühne und vor europäischem Publikum.

Im Zentrum steht die titelgebende Daisy Miller, eine „kleine flirtende Amerikanerin“, die zwar aus wohlhabender Familie stammt, aber nicht zur neuenglischen Kolonialaristokratie gehört. Ihr Vater kam als Geschäftsmann zu Reichtum, aber die amerikanische und europäische Aristokratie gibt ihr zu verstehen, dass genau das ein Indiz für eine unkultivierte, vulgäre Herkunft ist. Miss Miller irritiert, provoziert und demonstriert eine manchmal schnippische, oft ironische Unabhängigkeit, die ihr zum Verhängnis werden soll. Die story wie auch die Figurenkonstellation der Novelle sind außerordentlich reduziert. Alles läuft auf Daisy Miller zu bzw. nimmt ihren Ausgang von ihr. James entwirft ein erzählerisches Netz, aber dieses Netz hat nur einen Knotenpunkt.

Daisy Miller ist anders als alles, was junge Männer und alte Damen in Europa jemals glauben gesehen zu haben. Sie wird nicht verlegen. Sie errötet nicht.

  • „Ihr frischer, heller Teint jedoch hatte nicht den leisesten Anflug eines Errötens; sie war also weder gekränkt noch aufgeregt.“

Seit eh und je formulierte die europäische Literatur genau diese Erwartung an junge Frauen. Oft genug machen sich junge Männer in zahlreichen Romanen einen perfiden Spaß daraus, junge Mädchen in Verlegenheit zu bringen. Das prompte Erröten ist dann wiederum Beleg für die Scham- und Tugendhaftigkeit der jungen Frau – und gleichzeitig Anlass für weiteren ‚Spaß‘. Der junge Galan, der Daisy Miller begegnet, ist geradezu verstört angesichts des unübersehbaren Nicht-Errötens. Er weiß nicht, wie er das einzuordnen und wie er damit umzugehen hat. Er zweifelt an seiner Menschenkenntnis und seinem moralischen Empfinden. Er einigt sich darauf, Daisy als „gern flirtend“ zu charakterisieren und das ihrer amerikanischen Herkunft zuzuschreiben. Flirten, so vergewissert er sich, sei wohl eine „rein amerikanische Albernheit“, die Europäer missverstehen würden. In gewisser Weise ist das sein Versuch, sich Daisy in seiner Vorstellung als scham- und tugendhaft zu bewahren, obwohl die erwarteten, freilich oberflächlichen Zeichen (eben das Erröten) fehlen. Junge Mädchen, die nicht erröten sind offenkundig ein Rätsel.

  • „Sie stand nicht errötend auf, so wie ein junges Mädchen in Genf es getan hätte; und doch hielt er es, wohl wissend, dass er sehr weit gegangen war, für möglich, dass sie sich innerlich zurückgezogen hatte.“

Erst viel später zeigt Daisy vereinzelt „den leichtesten Anflug eines Errötens“. James‘ Novelle aus dem Jahr 1878 behandelt das Erröten nicht mehr als selbstverständliche Normalität. Vielmehr präsentiert er diese literarische Figur als etwas ‚Problematisches‘. Er macht es zum Gegenstand des Nachdenkens und gibt der Leserin und dem Leser die Möglichkeit, sich davon irritieren zu lassen. (Wem würde heute schon bewusst auffallen, dass jemand im Gespräch nicht errötet?) Etwas ganz ähnliches leistet der vier Jahre zuvor erschienene Roman Fern vom Treiben der Menge von Thomas Hardy. Bei Hardy erröten geschlechter- und altersübergreifend nahezu alle Charaktere immerzu in allen möglichen Rotschattierungen – fast als ein running gag.

Das Erröten: Ein scheinbar exzentrisches, marginales Thema, das aber einiges darüber aussagt, wie Körperlichkeit, Emotionalität und Geschlecht literarisch modelliert werden. Ich jedenfalls achte nun beim Lesen darauf, wer wann wie warum errötet.

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