Die „Stimme des Volkes“ in Zeiten der ‚Lügenpresse‘. Arlette Farge, das 18. Jahrhundert und wir

Geschichtsbücher, also Bücher über Geschichte, erklären die Gegenwart. Sie erzeugen Verfremdung und Distanzierung und gleichzeitig oft irritierende Wiedererkennungseffekte. Als ich kürzlich ein bestimmtes Geschichtsbuch aus dem Regal nahm (als Historiker tue ich das natürlich hin und wieder), drängte sich eine Aktualität auf, die ich nicht erwartet hatte.

Jedenfalls habe ich Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert von Arlette Farge nicht gelesen, weil ich etwas über die Lage heutiger Öffentlichkeit und politischer Debattenkultur erfahren wollte. Ich wollte lediglich wieder ein Buch von Arlette Farge lesen, weil sie eine der inspirierendsten und spannendsten Historiker_innen überhaupt ist. Das Buch ist im französischen Original 1992, in deutscher Übersetzung von Grete Osterwald 1993 erschienen und bereits seit einiger Zeit vergriffen.

Es war also nicht zu erwarten, etwas über eine Zeit zu erfahren, in der sich die selbsternannte „Stimme des Volkes“ in ‚Lügenpresse‘-Sprechchören ergeht, in der in sozialen Medien hanebüchene Gerüchte, krude Behauptungen, offensive Faktenresistenz und dummstolze Ignoranz gegen jede Form von ‚Aufklärung‘ dominieren (eine beeindruckende Analyse lieferte jüngst Georg Seeßlen). Dennoch bietet Farge die Möglichkeit, genau darüber nachzudenken: über Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit; über das Verhältnis ‚des Volkes‘ zu den Mächtigen; über den subversiven Charakter einer bestimmten Rede; über Zensur und Überwachung.

Arlette Farge rekonstruiert ein Segment der Öffentlichkeit, das nicht identisch ist mit dem bürgerlichen „Raum der gebildeten Kritik“, also der Welt der aufgeklärten Meinung. Sie trägt eine Fülle zirkulierender Gerüchte, Denunziationen und ‚Nachrichten‘ zusammen, bei denen es nie darum ging, ob sie ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, sondern nur darum, ob sie mehr oder weniger wahrscheinlich sind. Die Pointe besteht darin, dass dieser aus unzähligen Absurditäten sich zusammensetzende Redeschwall zu einer politischen Kraft wurde.

Am Beispiel Frankreichs im 18. Jahrhundert rekonstruiert Arlette Farge „politische Formen der Zustimmung oder der Mißbilligung, mit denen das Volk auf die Ereignisse und auf das Schauspiel der Monarchie reagiert“. Sie beschreibt die „Stimme des Volkes“ als etwas, das als gesellschaftliche Praxis allgegenwärtig ist, politisch aber keinen Ort hat – und sich schrittweise einen Ort erobert. Der Skandal bestand – aus Sicht der Obrigkeit, der Zensoren, des polizeilichen Überwachungsapparats – darin, dass ‚das Volk‘ sich überhaupt eine Meinung zu irgendetwas bildete und diese ausdrückte.

„Die Spitzel sind erstaunt. In ihren Berichten äußern sie Verwunderung und Beunruhigung über ein ‚Denken‘, das jederman zugänglich ist, und über bislang ungewohnte Ausdrucksformen. Verwundet sind sie auf doppelte Weise: es erscheint ihnen außerordentlich, zu hören, wie Leute ‚aus dem gemeinen Volk‘ fortwährend und kühn Partei ergreifen; fassungslos sind sie aber auch über die Hartnäckigkeit der bekundeten Überzeugungen und über die Wohlbegründetheit der Argumente. […] Sie sind die ersten, die gemerkt haben, daß die nach alter Gewohnheit politisch disqualifizierte Volksmeinung zu einem Diskurs mit klarem politischen Inhalt wird.“ (S. 43)

Arlette Farge beschreibt eine Umbruchsituation, in der politische Kommunikation und Öffentlichkeit nicht mehr in obrigkeitlicher Verkündigung und Zensur aufgehen.

„Eben das ist neu an der Atmosphäre des achtzehnten Jahrhunderts: daß sich die Legitimität, über etwas nachzudenken, gegen das Denkverbot durchsetzt. Die Überschreitung zahlt sich aus. Unter den kulturellen und politischen Bedingungen der damaligen Zeit erzeugt sie einen Wagemut, eine Selbstsicherheit, die zu den wichtigsten politischen Tatbeständen des Jahrhunderts gehören.“ (S. 63)

AfD-Pegidisten dürften sich gern in dieser Tradition sehen: Wagemutige Männer und Frauen des Volkes, die den Mächtigen eine Meinung sagen, die diese nicht hören wollen und mittels ‚Lügenpresse‘ und ‚Staatsfernsehen‘ unterdrücken. Sie dürften für sich beanspruchen, die ‚wirkliche Meinung des Volkes‘ an die Oberfläche zu bringen. Und sie dürften ihre ‚Gegenöffentlichkeit‘ als Raum der wirklich wahren Wahrheit verstehen. Aber ihre Welt ist nicht die Welt, die Arlette Farge im Sinn hat. Denn einerseits sind die meisten AfD-Pegidisten eben gerade keine „Leute, die ‚begierig sind, das Für und Wider zu kennen‘.“ Und andererseits zeigt Farge, dass das ‚Volk‘ und die ‚Volksmeinung‘ heterogen und zerrissen sind. Die „Stimme des Volkes“ ist kein parolenskandierender Sprechchor. Wer meint, ‚das Volk‘ zu sein oder für ‚das Volk‘ zu sprechen – der lügt und verwechselt die eigene (Des-)Informationsblase mit volkssouveräner Demokratie.

Aktualisierungseffekte, die von Geschichtsbüchern ausgehen, gebieten freilich auch immer eine gewisse Skepsis. Das Gleiche ist nie dasselbe. Eine Figur wie Pierre Dayrivier, der am 26.November 1762 wegen regierungskritischer Rede in einem Café festgenommen wurde, lässt sich nicht einfach in megaphonbewaffnete AfD-Pegidisten übersetzen. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass eine Wiederbelebung vergangener Haltungen genau dort enden könnte. Über Dayrivier hieß es im Polizeibericht:

„Dieser Mann kümmert sich seit langem um zu viele Dinge, außerdem ist er ein begeisterter Hitzkopf, der glaubt, mehr Einsicht und Räsonnement zu besitzen als andere, die nicht aufgeklärt sind, was ihn offenbar dazu getrieben hat, entweder dem Monarchen oder der Regierung seine Achtung zu versagen.“ (S. 294)

Die Sympathie für Pierre Dayrivier kann unter heutigen Vorzeichen nicht mehr bedingungslos sein; der Respekt allerdings schon, denn dieser Hitzkopf des 18. Jahrhunderts wäre nie auf die Idee gekommen, seine Unzufriedenheit mit der Regierung in Hass auf Minderheiten, Unterprivilegierte und Fremde zu gießen.

Farge, Arlette: Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert, Klett Cotta: Stuttgart 1993 (aus dem Französischen von Grete Osterwald).

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