Daimler und die Würste – deutsche Kontinuitäten im 20. Jahrhundert

Zuerst die Süddeutsche Zeitung und dann der Guardian berichten heute über einen Wurststreit auf der Aktionärshauptversammlung bei Daimler. Offenkundig bevorratete sich jemand am Buffet ausgiebig für einen späteren Wursthunger zuhause; jemand anderes störte sich daran; es kam zum Streit; die Polizei schlichtete. 12.500 Würste für 5.500 Aktionäre. Da war der Zwischenfall doch vorprogrammiert! Wer sich ein klein wenig mit der Wurstgeschichte Daimlers auskennt, hätte das auch vorhersehen können.

Wie das Leben manchmal spielt und der Zufall es will: Der erste Aufsatz, den ich jemals in einer geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlich habe, widmete sich – genau – einem hässlichen und langwierigen Kantinenstreit bei Daimler (vgl. Die Massengesellschaft auf dem Weg in die Kantine. Fabrikmahlzeit, Selbstbedienung und „Ordnungsdenken“ bei der Daimler-Benz AG 1948-1953, in: Historische Anthropologie 17.1,2009). Auch in diesem alten Kantinenstreit ging es – unter anderem – um die Wurst. So wurde um das wirkliche oder unterstellte „Untergewicht“ einer Wurst gestritten.

„Es darf natürlich nicht sein, daß, wenn zu einem Pärchen Wurst beispielsweise Normalmaß genommen ist und dann das Pärchen in einem Stück gegeben wird, daß dann einer glaubt, es sei das andere Stück zu dem Pärchen nicht mitgegeben worden, also die Länge vielleicht 2 Meter betragen muß.“ (Betriebsversammlung vom 11.3.1952, Protokoll, Daimler Archiv, Bestand Könecke 12, S. 10.)

Die Ansicht, beim Essen übervorteilt zu werden, rechtfertigte in den frühen 1950er Jahren zwar Beschwerden, aber nicht jede Art von Benehmen.

„In der Kantine kommt es immer wieder vor und ich weiß, daß mal eine Portion Wurst vielleicht Untergewicht hat oder an einem Käse mal etwas nicht ganz in Ordnung ist. Kolleginnen und Kollegen, bitte seid so freundlich und kommt, aber bitte schreit die Verkäuferin nicht an […], die kann nämlich nichts dafür, die verkauft nur. Wenn Ihr in einem freundlichen Ton kommt, dann hallt es freundlich zurück. Aber, wenn einer anders kommt, auf einen groben Klotz gehört auch ein grober Keil. Das ist eine ganz klare Sache.“ (ebd., S. 22)

Hunger- und Mangelerfahrung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, gerade auch unter Arbeiterinnen und Arbeitern, machen derartige Diskussionen verständlich. Die Arbeiter_innen von Daimler würden sich heute in der Kantine wahrscheinlich nicht mehr um das Gewicht einer Wurst streiten. Dass derartiges 2016 auf Aktionärsversammlungen vorkommt, zeigt einerseits, dass die Wurstfrage wohl eine der unterschätzten Kontinuitäten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Andererseits zeigt sich darin aber auch der Wandel vom Industrie- zum Finanzmarktkapitalismus. Nicht mehr hungrige Arbeiter streiten sich um die Wurst, sondern gierige Aktionäre. Die Wustfrage ist eine Frage des shareholder value geworden. Oder soll man glauben, dass a) Daimler so schwache Renditen abwirft, dass Aktionäre aus purer Not Würste am Buffet in die Tasche stecken, und b) andere ihre Dividente in Gefahr sehen, wenn jemand zu viele Gratiswürste konsumiert?

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