Wenn etwas kompliziert ist – kompliziert zu verstehen oder kompliziert zu bewerkstelligen -, dann hilft Science Fiction. Das gilt auch für die unendlich komplizierten, weitgehend intransparenten, viel diskutierten und viel kritisierten Freihandelsabkommen CETA und TTIP. Offenkundig gebiert der Freihandel vertragliche Ungeheuer. Es bedarf scheinbar eines ungeheuerlichen Apparats und Vorlaufs, damit Güter und Waren einfach, schnell und leicht über weite Räume gehandelt werden können.
Es könnte natürlich auch einfach sein: Man könnte sich einfach gegenseitig zusichern, alle Waren und Güter der ‚anderen‘ rein zu lassen. Aber nach welchen Regeln? Entweder beharrt man darauf, dass alles, was ‚bei uns‘ eingeführt wird, ‚unseren‘ Regeln und Vorgaben entsprechen muss, oder ‚wir‘ vertrauen ‚ihnen‘ und ‚ihren‘ Regeln. Das Problem ist nur, dass den jeweiligen Regeln unterschiedliche Einschätzungen darüber zugrunde liegen, welche Waren und Güter (un-)gesund, (un-)gefährlich, (un-)schädlich sind. US-Amerikaner_innen finden französischen Rohmilchkäse nicht nur eklig, sondern halten ihn fast schon für eine kulinarische Form bakteriologischer Kriegsführung; Europäer_innen erkennen im Chlorhühnchen den Vorboten eines alten Witzes von Louis de Funès.
Wenn bereits Kanada, die USA und die Europäische Union – die ja immerhin behaupten, einer gemeinsamen (westlichen) Wertegemeinschaft und Konsummoderne anzugehören – feststellen müssen, dass selbst in profanen Waren und Konsumgütern abweichende kulturelle Vorlieben, Abneigungen und Werthaltungen eingeschrieben sind – wie muss es dann erst im extraterrestrischen, interstellaren Handel aussehen?
Die Kurzgeschichte Geburt eines Handlungsreisenden von James Tiptree Jr. aus dem Jahr 1967 – ein wundervolles SciFi-Kleinod – gibt einen Einblick in die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit den Problemen eines weiträumigen (Frei-)Handels. Im Mittelpunkt der Geschichte steht T. Benedict, Mitarbeiter einer Handelsorganisation und dort der Verantwortliche in der Abteilung FKGK – „Fremdkulturelle Gestaltklarierungen“.
Als Einstieg in die Geschichte und Beschreibung von Mr. Benedicts Arbeit dient ein Telefongespräch, dass dieser mit einem Klienten führt. Das ist literarisch fein gearbeitet, und es macht Vergnügen, als Leser die andere Seite des Gesprächs zu imaginieren.
„Eff-ka-ge-ka. … Richtig, Sie brauchen eine Klarierung von uns, wenn Sie Ihr Produkt außerhalb des Planeten versenden wollen … Richtig, das gilt auch für außerplanetare Waren, die hier weiterverarbeitet werden. Sobald man sie irgendwie in die Finger nimmt … Ja, genau, Fremdkulturelle Gestaltklarierungen. Ein scheußlicher Name, ich weiß; war nicht meine Wahl. Wir schicken Ihnen die Formulare zu … Moment, dass wir uns richtig verstehen, der Name ist vielleicht albern, aber unsere Aufgabe nicht. Was wollen Sie versenden? … Lager mit monomolekularer Beschichtung? Wie sind sie verpackt? … Wie sie verpackt sind, will ich wissen. In was für Behältern? In kugelförmigen? Schön, Sie wollen sie also in den Deneb-Sektor verschicken. Das heißt, über den Transferpunkt Deneb-Gamma, richtig? … Na, dann schlagen Sie es mal nach, Sie werden feststellen, dass die Ware darüber laufen muss. Also, in dem Moment, in dem diese Kugeln von Ihnen da durch den Transfer rollen, wird sich die komplette Belegschaft von Station Gamma auf ihre Opercula hocken und niemand krümmt auch nur einen Tentakel, weil Kugeln auf Gamma nämlich religöse Bildnisse sind, alles klar? Und der Transmitter bleibt auf Ihre Kosten offen, abgerechnet per Mikrosekunde, und Ihr Produkt rührt sich kein Stück, bis ein dortiger atheistischer Rettungstrupp da reingebracht wird – zum dreifachen Satz, auf Ihre Kosten – und den Weiterversand übernimmt, ja? Wenn Sie sich diesen Mist ersparen wollen, müssen Sie uns ein Muster zur Klarierung schicken. Und zwar, bevor die Fracht versiegelt wird! Alles klar? … Ich schick Ihnen die Formulare und Sie sehen zu, dass wir schleunigst die Muster reinbekommen, Wir tun, was wir können.“
Die Geschichte folgt im Wesentlichen dieser Logik und bezieht ihre Komik und Dynamik aus der schieren Unendlichkeit der Variationen von Produkteigenschaften, denen auch mit dem brillantesten fremdkulturellen Gestaltklarierer und einem allumfassend besetzten „Fremdwesen-Beirat“ nicht im Vorhinein beizukommen ist. Bekannte Faktoren lassen sich vorweg ausschalten – etwa die Gefahr, dass ein Paket auf einem bestimmten Planeten angeknabbert wird, weil den dortigen Transportarbeitern das Rot des Paketaufdrucks so gut schmeckt usw. – anderes bleibt aber völlig rätselhaft, und man ist erst im Nachhinein schlauer, wenn überhaupt. Es sollte also niemanden verwundern, dass auch heute amerikanische und europäische CETA- und TTIP-Unterhändler_innen mit ihren Versuchen, alle Unwägbarkeiten vorab vertraglich zu klären, einfach nicht hinterherkommen. Im Grunde – das könnte man aus Tiptrees Geschichte lernen – weiß man nie abschließend, was es überhaupt alles zu regeln gilt, geschweige denn, dass man sich auf das Wie einigen könnte.
Es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: einerseits das optimistisch-expertokratische Bürokratiemodell, auf das Tiptree in den 1960er Jahren augenzwinkernd setzte; andererseits das privatrechtliche Vertragsmodell, mit dem sich zwei „Unternehmer“ auf die Bedingungen und Voraussetzungen eines Geschäfts oder einer Reihe von Geschäften einigen. Kanada, die USA und die EU probieren sich am zweiten Modell. Das hat wohl auch etwas mit dem Zeitgeist zu tun. Die Kritik an CETA und TTIP ist aus unterschiedlichen, nicht immer unzutreffenden Gründen erheblich. Sie wäre wahrscheinlich aber noch massiver, wenn jemand eine ressourcenstarke europäische Behörde fordern würde, die von Fall zu Fall und auf Antrag Produkte prüft und „Unbedenklichkeitsbescheinigungen“ ausstellt – oder eben auch nicht. Bereits T. Benedict muss sich in Tiptrees Geschichte mit verärgerten Geschäftsleuten herumschlagen, die sich über die Kosten bestimmter Auflagen beklagen und die Behörde für alles, was schief geht verantwortlich machen. „Wofür zahle ich meine Steuern? Inkompetent! Parasitär! Bah!“
Im progressiven Klima der USA der Sixties konnte man Partei für aufgeklärte öffentliche Angestellte ergreifen – gegen die allzu eindeutigen und durchschaubaren Interessen der Geschäftswelt. Seither hat die Bürokratiekritik erheblich an Bedeutung gewonnen. Diesen Aspekt des Neoliberalismus finden alle gut … Die EU-Kommission hat vielleicht deshalb ein so schweres Standing, weil sie als bürokratische Behörde wahrgenommen wird, die sich wie ein schmierig-gieriger Geschäftsmann aufführt; jedenfalls nicht wie der integere Mr. T.Benedict von der FKGK.
Die Geschichte Geburt eines Handlungsreisenden (1967) ist erschienen in: James Tiptree Jr.: DOKTOR AIN. Sämtliche Erzählungen, Band 1 (aus dem Amerikanischen von Elvira Bittner, Andrea Stumpf, Samuel N. D. Wohl, Laura Scheifinger, Frank Böhmert und Margo Jane Warnken). Der Band ist Teil der wunder- und verdienstvollen Werkausgabe, die der Septime Verlag anlässlich des 100jährigen Tiptree-Jubiläums seit 2011 herausgibt. Danke!
P.S. Bei James Tiptree Jr. handelt es sich natürlich um Alice B. Sheldon, deren unter männlichem Pseudonym verfasste Kurzgeschichten zum Kernbestand moderner Science Fiction gehören.