Richard Hell – Miterfinder und Mitbegründer von Punk im New York der 1970er Jahre; zusammen mit Tom Verlaine als Television für eines der einflussreichsten Alben der mittleren Musikgeschichte verantwortlich: Marquee Moon (1977); Stichwortgeber der Blank Generation; Autor einer Autobiographie, die inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegt.
Musiker_innenmemoiren neigen dazu, nur begrenztes Lesevergnügen zu bieten. In der Regel ist es ja auch das anekdotische Interesse an der jeweiligen Person, nicht die Suche nach literarischer Qualität, die in solchen Fällen die Hand beim Griff ins Regel führt. Ich freue mich bei derartigen Lektüren immer, wenn die jeweilige Autobiographie wenigstens die eine oder andere kleine Erkenntnis bringt.
Dank Richard Hells Autobiographie weiß ich nun, dass Punk in Buchhandlungen geboren wurde. Zumindest in New York scheint das der Fall gewesen zu sein (ich erinnere mich an ähnliche Hinweise bei Patti Smith). Hell berichtet von einer Kette kleiner Jobs in dieser oder jener Buchhandlung.
„I worked at Gotham Book Mart in midtown for a while at this time. I learned a lot there. It was the most famous and the best literary book-store in New York, probably in the whole world, in terms of inventory, and perhaps second only to Paris‘ Shakespeare & Company for literary associations.“ (S. 66)
„In 1968 I held a series of jobs, most rewardingly at the Strand Book Store among a crew of other artistically inclined kids.“ (S. 71)
„By this time, every other job Tom and I got was in a used-book store, and rummaging through them was our main form of recreation as well.“ (S. 88)
„It was in this time, 1971 through 1975, that we settled into the bookstore jobs, the last series of day jobs we would have before becoming professional musicians.“ (S. 94f.)
Hell nimmt sich die Zeit und den Raum, eine dieser Buchhandlungen (Gotham Books Mart), ihre Regale und ihr Inventar auf drei Seiten zu beschreiben und zu würdigen. Dabei zeigt sich, worin die Leistung dieser oder jener Buchhandlung für die Entstehung des New York Punk bestand: als Möglichkeit Geld zu verdienen, also als career opportunity; als Gelegenheit, Literatur kennenzulernen (bei Hell: die modernistische Poesie, T.S. Eliot etc. pp.); schließlich als Begegnungort für Gleichgesinnte – wo ein schräger Vogel für ein paar Dollar Inventartlisten erstellt, kommt bald ein zweiter hinzu, der Regale einsortiert …
Die Blank Generation, das ist vielleicht die Ironie der Geschichte, wurde in einer Umgebung geboren, in der keineswegs unbeschriebene Blätter dominierten. Bisher fehlen die Buchhandlungen in der Geschichte des Punk; und ich bin mir nicht sicher, ob in der Geschichte der Buchhandlungen deren Bedeutung als soziale, kulturelle und ökonomische Infrastruktur für Punk ausreichend gewürdigt wird. Offen bleibt die Frage, ob sich zukünftige Musiker_innen heute als Lagerist_innen bei Amazon oder DHL-Boten_innen verdingen.
Das Buchhandlungsthema soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hells Buch eher wenig überzeugt (besonders gern habe ich es nicht gelesen). Verantwortlich dafür ist ein mentaler Rockismus, der sich vor allem in der Beschreibung von Frauen zeigt: den „chicks“ und sexuell befreiten „fun-loving girls“. Offensichtlich gibt es in Sachen Popkultur eine sehr spezielle Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch: musikalisch und ästhetisch bedeuteten Richard Hell, Television, The Voidoids etwas Neues und radikal Anderes; Habitus und Haltung im Privaten (das natürlich politisch ist) scheinen freilich in alten, überholten Posen zu erstarren. Jemand, der auf der Bühne oder auf einem Album weder aussieht noch klingt wie Keith Jagger (und gerade für diese Differenz geschätzt wird), kann trotzdem dessen Altrockstarweltwahrnehmung haben.
Richard Hell: I Dreamed I Was a Very Clean Tramp. An Autobiography, Ecco HarperCollins 2013. [Dt. Ausgabe u.d.T.: Blank Generation. Autobiographie, übers. v. Thomas Atzert, Edition Tiamat 2015]
Ein Kommentar zu „Bookstore Punk – die Autobiographie von Richard Hell“