Wandelnde Leichen – die Koffeinsucht junger Fabrikarbeiterinnen (1893)

Minna Wettstein-Adelt (1869-1908) veröffentichte 1893 den Bericht 3 1/2 Monate Fabrik-Arbeiterin, in dem sie – eine der Vorkämpferinnen der bürgerlichen Frauenbewegung – sich dem Elend der ‚Schwestern‘ in den Fabriken widmete. Zu diesem Zweck verbrachte sie einige Zeit im Undercovereinsatz in einigen Chemnitzer Textilfabriken. Derartige Expeditionen in das fabrikgesellschaftliche Herz der Finsternis waren im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert durchaus in Mode.

Minna Wettstein-Adelt schildert alle möglichen Facetten der Lebens- und Arbeitswelt junger Fabrikarbeiterinnen und zeigt sich permanent erschüttert und schockiert darüber, wie anders, wie roh, wie schamlos, wie unzivilisiert und wie bestialisch (alles ihre eigenen Etiketten) diese Welt im Vergleich zur Berliner Bürgerwelt ist. Am Ende ihrer gut hundert Seiten starken Schrift findet sich ein Kapitel, dass mit „Verschiedenes“ überschrieben ist – und in diesem Kapitel findet sich ein Kommentar zum größten Laster der (jungen) Fabrikarbeiterinnen: dem  Essen von Kaffeebohnen.

„Es giebt [sic] Mädchen unter den Arbeiterinnen, von denen man erschrickt, die den Stempel des Todes im Antlitz tragen, mit weißer Gesichtsfarbe und tiefliegenden Augen, wie wandelnde Leichen, die sich ruinieren und elend machen um elender Kaffeebohnen willen. Solche Koffeinsüchtigen verbrauchen ihren halben Lohn für dieses Gift, sie haben größtenteils einen ruinierten Magen und bedürfen kaum der festen Nahrung. Eine meiner Nachbarinnen kaufte sich jeden Morgen eine Düte [sic] frischgebrannter Kaffeebohnen, am Nachmittage hatte sie alle verzehrt und sehnte sich nach ’neuen‘. Ich glaube kaum, daß man diese Unglücklichen retten kann, denn sie sind jeder Selbstbeherrschung und Energie bar, sie sind weit schwerer zu kurieren, denn Cocainsüchtige.“ (S. 103)

Eine wundervolle Passage; aufschlussreich in vielerlei Hinsicht.

Die weiße Gesichtsfarbe und tiefliegenden Augen der wandelnden Leichen erinnern daran, wie verbreitet es im neunzehnten Jahrhundert war, die Fabriken (und den Kapitalismus) als moderne Verkörperung des Vampirismus zu beschreiben. „Das muß man gesehen haben“, hieß es etwa 1913 in Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen (dem Publikationsorgan der proletarischen Frauenbewegung um Clara Zetkin), „um den Leiber und Geister auspressenden Kapitalismus ganz zu begreifen. Und immer mehr solcher geduldiger Lämmer, immer mehr solcher Frauen, Mädchen und Männer schleppt der Vampyr ins Land.“ Die Existenz tatsächlicher Vampire trieb mit deren literarischer Kodifizierung in der gothic novel inzwischen niemanden mehr um, die Metaphoriken des Vampirismus allerdings schon – wenn es um die armen, elenden Fabrikmädchen ging. Vor allem die Arbeiterinnen der Textilindustrie, das hat die Historikerin Eva Pietsch in einer schönen Studie (Gewerkschaft, Betrieb und Milieu in der Bekleidungsindustrie, Essen 2004) herausgearbeitet, schienen dieses Bild zu bestätigten: „Bleiche Lippen und hektische Wangen, flache Brust und blasse Haut.“

Die Brücke von der Koffein- zur Kokainsucht bekräftigt dagegen eine Binsenweisheit in der Geschichte stimulierender Substanzen: Drogen nehmen immer nur die Anderen und am Gefährlichsten ist immer das, was die unteren Schichten nehmen (denen es, natürlich, in noch größerem Maß an Selbstbeherrschung mangelt, als es bei bürgerlichen Süchtigen der Fall sein mag). Als Minna Wettstein-Adelt ihre Passage schrieb, war es noch gar nicht so lange her, dass Kokain als medizinisch-pharmazeutische Wunderwaffe verwendet wurde, unter anderem um Morphinsucht zu behandeln … Immerhin schlug Wettstein-Adelt nicht vor, dem Essen von Kaffeebohnen damit auf den Leib zu rücken. Mich hat sie allerdings daran erinnert, wieder einmal schokoladenüberzogene Espressobohnen zu kaufen (ich höre wieder auf, falls irgendwann der halbe Lohn dafür draufgehen sollte).

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