Die Gesellschaftskritik der alternativ-linken Bewegungen der ‚langen siebziger Jahre‘ – die Diagnosen und Utopien der Post-68er – scheinen für das 21. Jahrhundert, noch oder wieder, eine gewisse Strahlkraft zu haben. Ökologische Krise, Konsumismus, entgrenztes Wachstum, flexibler Kapitalismus – die seit ’68‘ geprägten Schlagworte wirken weiterhin und scheinen wie gemacht für eine Kritik heutiger Verhältnisse. Ähnlich verhält es sich mit den Reformvorschlägen und Zukunftsperspektiven: Nullwachstum, Nachhaltigkeit, immaterielle Arbeit, Wissenskommunismus, Grundeinkommen – allesamt Ideen und Konzepte, deren zaghafte Formulierung in die sechziger und siebziger Jahre zurückverfolgt werden kann.
Folgerichtig lädt ein schöner kleiner Band aus dem Wagenbach-Verlag dazu ein, André Gorz – „einen fast vergessenen Denker“ – neu zu entdecken. Gorz’ philosophisch-soziologische Analysen seit den späten 1950er-Jahren oder seine Reportagen im „Nouvel Observateur“, den er 1964 mitbegründete – der vorliegende Band versammelt vor allem eher journalistische Texte der Jahre 1976 bis 2005, oft in deutscher Erstübersetzung –, lassen sich als laufender Kommentar zum Strukturwandel westlicher Gesellschaften lesen; ein Strukturwandel der nicht abgeschlossen ist.
Neben einigen spannenden Texten von Gorz enthält der Band „kritische Würdigungen von Constanze Kurz, Otto Kallscheuer, Claus Leggewie, Petra Gehring, Sarah Speck, Karena Kalmbach, Wolfgang Stenke und Stephan Lessenich, deren eigenes Denken und Handeln stark von ihm beeinflusst sind oder die sich neuerlich von ihm inspirieren lassen.“ Diese Texte geben einigen Aufschluss über die Befindlichkeiten der heutigen Gesellschaftskritik. Sie zwingen Leser_innen dazu, sich mit der Frage zu beschäftigen, was sich aus früheren kritischen und utopischen Entwürfen für eine linke, progressive Politik heute lernen lässt. Aber auch: ob Gegenwart und Zukunft einer solchen Politik tatsächlich in einer Neuauflage der Diagnosen und Utopien der alternativ-linken Post-68er liegen können. Ich wäre hier skeptischer als einige der Beiträger_innen in diesem Band.
Leggewie, Claus; Stenke, Wolfgang (Hrsg.): André Gorz und die zweite Linke. Die Aktualität eines fast vergessenen Denkers. Mit Übersetzungen aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wagenbach: Berlin 2017. 176 Seiten. 13,90 EUR.
[Eine längere Besprechung, die stärker die Bedeutung der Texte von Gorz als Quelle für die Geschichtswissenschaft diskutiert, habe ich auf H-Soz-u-Kult veröffentlicht.]